
Blutige Gischt - LESEPROBE
Graue Wolken hingen bewegungslos am Himmel und ließen ihren Nieselregen einfach fallen, als die Tempesta durch den Nebelschleier trat und in die Bucht einlief.
San Nicola hatte sich kaum verändert. Die in die Hügel gedrungenen, weißen Häuschen hatten sich vermehrt, die Bäume gelichtet. Die Anzahl der Fischerboote war gestiegen und die Pier um einen Steg verlängert worden. Über dem Dorf lag derselbe abgestandene Salzwassergeruch wie einst.
Ein kühler Wind zerrte erfolglos an Alessandros weißem Leinenmantel mit dem roten Tatzenkreuz. Dabei klingelten die kleinen Ringe seines Kettenhemdes wie ein Glockenspiel.
Das bunte Herbstlaub, das auf den Wellen schaukelte, bildete sein einziges Willkommen.
Vor Giuliettas Haus meuterten schließlich Alessandros Füße. Dies war sein Gang nach Canossa. All die Jahre hatte er sich die Rückkehr ausgemalt. Tausende Nächte hatte er alle Möglichkeiten des Wiedersehens durchgespielt. Seine Hände schwitzten. Trotz seiner Rüstung fühlte er sich nackt wie ein ausgesetztes Kind.
Giuliettas Unglaube wich nur langsam. Sie hatte das Feuer geschürt als Alessandro eingetreten war. Durch ihr Haar zogen graue Strähnen, als wären sie Rauch über den Feldern einer geschlagenen Schlacht. Doch ihre Augen funkelten.
»Wie kannst du es wagen?«, begann sie leise.
»Vergib m…«
»Wie kannst du es wagen? Nach all der Zeit?« Ihre Miene verfinsterte sich, als die Erinnerung an die vergangenen Jahre sie überkam, wie die Krallen des Bussards eine Feldmaus.
»Es tut mir leid.«
»Es … Es tut dir leid? Du verschwindest. Mitten in der Nacht. Was für ein Geburtstagsgeschenk! Wusstest du, dass Giuseppe in derselben Nacht starb? Von dir kein Wort, keine Nachricht! Kein Lebewohl!«
Alessandro hielt ihren Blick aber schwieg.
Giulietta ballte ihre Fäuste. »Ich wusste nicht warum, ich hatte keine Erklärung. Lag es an mir? War ich nur deine Hure?« Ihre Knöchel traten weiß unter der Haut hervor. Sie zitterte. »Ich wusste nicht, ob du überhaupt am Leben bist. Wenn ja, würdest du wiederkommen?«
Giulietta ging auf Alessandro zu. »Ich habe Jahre gebraucht, um dich zu vergessen und nun kommst du zurück? Wie konntest du das nur tun? Wie konntest du mich zurücklassen?«
Sie schlug ihm eine Ohrfeige, deren Schall die Spatzen unter dem Dach in den Regen scheuchte.
Alessandro roch das Feuer an ihr. Seine Wange glühte. »Ich musste gehen.«
Giulietta erbrach das Gift der Einsamkeit über ihn. Sie schimpfte, fluchte und hieb mit ihren Fäusten auf seinen Harnisch ein. Alessandro ließ sie.
»Vergib mir, Giulietta.« Er nahm sie in den Arm und für einen Moment aus der Ewigkeit waren sie still.
»Ich habe gehört, du hast einen Sohn?«, fragte er schließlich.
»Ja«, gab sie zurück und blickte auf. »Er heißt Alessio. Das Leben wollte einfach nicht stehen bleiben, mein gebrochenes Herz interessierte es nicht. Ich habe bald nach deinem Verschwinden geheiratet.«
»Und der Vater?«
»Mein Gemahl starb durch …« Giulietta verstummte.
»Du bist sicher sehr stolz«, wechselte Alessandro das Thema.
Sie nickte und blinzelte Tränen fort. Ihre Augen wanderten über seine Rüstung und den weißen Mantel. Sie strich mit ihren Fingern über den Griff seines Schwertes. Alessandro hatte noch immer kein graues Haar. Seine Haut trug kleine Narben aber keine einzige Falte. »Du bist keinen Tag gealtert. Wie ist das nur möglich? In all den Jahren. Wer bist du?«
Alessandro blickte ins Feuer. Es war Zeit. Zeit das Lügen und die Flucht zu beenden. Er holte tief Luft.
…
© 2014 Nikolaj Kohler