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Protoplasma mit Hut - LESEPROBE

Der Februarregen des Jahres 1964 drückte gegen die Scheiben des Ziegelgebäudes in der Davidstraße. Es war eine Belagerung, der Versuch einer Erstürmung. Der orkanartige Wind peitschte den Regen waagerecht durch die dunklen Straßen und die Gedanken der Hamburger zurück in die Sturmflut zwei Jahre zuvor. Das Prasseln und Trommeln erschlug alle konkurrierenden Geräusche und der Verkehr auf St. Pauli kam zum Erliegen.

    ¡oOo! saß im Lehnsessel. Auf der Milchglasscheibe der Bürotür stand das Wort Privatdetektiv und im Raum hing der Geruch angesengten Plastiks und verbrannten Fleischs. ¡oOo! dehnte etwas von seinem grauweißen Protoplasma zu einer Ausstülpung, die ein Mensch vielleicht als Bein bezeichnet hätte, und stieß sich vom Boden ab. Die resultierende, ruckartige Wechselbewegung im Stuhl nannten die Erdbewohner wippen. Nur eines von vielen Dingen, das ¡oOo! an diesem kleinen Planeten faszinierte.

   Privatdetektiv. Dieser Beruf suchte im Kosmos seinesgleichen. ¡oOo! hatte sich lange vor Reiseantritt informiert. Es kannte die wichtigsten Berichte wie Die Spur des Falken, Tote schlafen fest oder Die Abenteuer des Sherlock Holmes auswendig. Ein Detektiv trug eine erdfarbene* Bedeckung namens Trenchcoat und einen verbeulten Stoffhelm namens Hut.

   ¡oOo!, das wippende Protozoon, betrachtete das Objekt auf dem Schreibtisch. Betrachten war vielleicht das falsche Wort: Es erfasste die äußere Form des Gegenstandes durch kurze Ultraschallklicks.

Das Ding war eine Art Aufenthaltsraum für verreisendes Papier. Es hieß Aktentasche und die Menschen machten es aus der Haut ihrer Milchspender, der Kühe. Auf dem Deckel der Tasche waren Buchstaben eingeprägt: C.I.A. Was für ein seltsamer Name, wunderte sich ¡oOo!.

   Vor dem Schreibtisch stand der Mensch, der die Tasche gebracht hatte. Ein kleiner Mensch, vermutlich ein Küken. Das Menschenküken trug keinen Hut, sondern strohartiges Zeug auf dem Kopf. Es schien etwas zu erwarten. Aber was? ¡oOo! ergriff mit einer Protoplasmaausstülpung den Fleischausläufer des Menschen und bewegte diese sogenannte Hand auf und ab. Das war einfach der Wahnsinn. Händeschütteln nannte man das. Tolle Erfindung! Dadurch konnten Millionen Mikroorganismen bequem ihren Wirt wechseln. Das Menschenküken allerdings machte etwas mit seinen Sehorganen, den Augen, das an rollende Murmeln erinnerte, und verließ dann das Büro. ¡oOo! atmete aus – zumindest gedanklich** – und öffnete anschließend die Aktentasche. Darin lagen einige Zettel, d. h. beschriebenes Papier, eine Art extrakorporales Gedächtnis aus hauchdünnen Baumscheibchen. Genial. ¡oOo! formte mehrere Protoplasmaaustülpungen, entfaltete die Zettel und legte sie aufeinander. Das hieß Sortieren. Hatte man das Papier erst einmal sortiert, konnte man damit unglaubliche Dinge anstellen. Zum Beispiel das kastenförmige, graue Tier namens Reißwolf füttern, das unter dem Schreibtisch lebte. Bevor ¡oOo! seinen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, klopfte es an der Bürotür. ¡oOo! schob die Aktentasche in eine Schublade und den Papierstapel an die linke Kante. Auch ein Tisch wollte sortiert werden.

   Es klopfte erneut.

   ...

* eine Farbe, die außerhalb der Erde gänzlich unbekannt ist

** Protozoen von Quod5 besitzen zwar sowohl die Möglichkeit der Methanbildung als auch die der Sulfatreduktion, von Oxidation dagegen haben sie keine Ahnung

© 2017 Nikolaj Kohler

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